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Das Gartenscherenkrokodil

 

Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die man einfach teilen muss. Weil sie überraschend sind und zauberhaft. Voller Methaphern, die mehr beinhalten, als man auf den ersten Blick erkennt. 

Deshalb möchte ich dir heute die Geschichte vom Gartenscherenkrokodil erzählen. Aber eins nach dem anderen.

Meine Geschichte mit der kunst

Seit ich denken kann, begeistern mich große Werke der Kunst. Ob Musik, Architektur oder Gemälde. Staunend stand ich vor den blauen Chagall-Fenstern in Frankreich, ehrfürchtig in der Sagrada Familia, immer neue Details entdeckend bei Rembrandts "verlorenem Sohn". Meine Geschichte mit der eigenen Schöpferkraft startete weniger berauschend:

 

"Obwohl ich mich heute als kreativen Menschen bezeichne, begann meine Schulkarriere als völlige Niete in den Fächern Werken und Kunst. Mit Grauen denke ich an zwei linke Hände und eine Laubsäge zurück, die in der dritten Klasse einfach nicht zueinander passen wollten. Später, im Kunstunterricht, wurden vor allem detailgenaues Abmalen und realistische Darstellungen verlangt. Ich mogelte mich so durch. Einmal sollten wir eine Werbeanzeige aus einer Zeitschrift aussuchen, die Seite zerreißen und den fehlenden Teil ergänzen. Ich entschied mich für Reklame, bei der Fred Feuerstein abgebildet war. Eine Zeichentrickfigur halbwegs erkennbar zu ergänzen, erschien mir machbarer als ein Foto. Einigermaßen motiviert ging ich mit Wassermalfarben ans Werk. Man konnte Fred tatsächlich erkennen, allerdings waren nach dem Trocknen alle Farben ein paar Nuancen zu hell. Was für ein Glück, dass mein Vater die famose Idee hatte, das Bild mit einer Taschenlampe zu ergänzen, die den zu hell geratenen Teil beleuchtete. Mein Kunstlehrer hielt es tatsächlich für Absicht und war von "meiner" kreativen Idee begeistert." (aus "Stroh zu Gold - Entdecken, was mein Leben wertvoll macht")  Nicht immer ging es so glimpflich aus. 

 

Zum Glück hielt das außerschulische Leben weitere Gelegenheiten bereit, mich frei von Perfektion gestalterisch auszuprobieren. Und so entdeckte ich die Welt des Bible Art Journalings, Malens, Filzens, Strickens (wenn ich auch zugeben muss, dass mich Letzteres immer noch sehr herausfordert). Nichts ist entspannender als das völlige Versunkensein im kreativen Tun. Ohne Bewertung. Wobei ein liebevoll wertschätzender Blick von außen dem kunstunterricht-geschädigten inneren Kind einer inzwischen längst erwachsen gewordenen Frau durchaus guttut (liebe erwachsenen Jungs, ich schreibe hier von mir, fühlt euch aber gerne mit angesprochen). 

 

August-Art-Journal 2020

Ende Juli lag mein erstes Jahr als stellvertretende Schulleiterin hinter mir. Ich glaube, dank Corona, war es noch herausfordernder als es ohnehin gewesen wäre. Ich war ferienreif, wusste aber gleichzeitig, dass die kommenden Wochen nicht arbeitsfrei werden würden. Wie heißt es so schön: "Ferien sind kein Urlaub, sondern unterrichtsfreie Zeit." Neben der ganz normalen Planung für zwei neue zehnte Klassen schwebt das Wort "Digitalisierung" über mir. Wir sind keine große Schule. Ich bin das "Team" Digitalisierung. 

 

Umso wichtiger war mir, etwas Schönes zum Entspannen zu finden. Ich wollte viel in die Natur gehen, mein neues E-Bike einfahren ... . Aber was tun bei Hitze (ich bin kein Hitzemensch, meine Zeit ist der Herbst)?

Da kam das August-Art-Journal von Ramona Weyde genau richtig. In der Anmeldung hieß es:  "Du bekommst vom 1.-31. August 2020 jeden Tag eine Email mit einer Idee, einem Impuls oder einer Aufgabe rund um dein Sommerskizzenbuch. Das ist eine gute Möglichkeit, dich ein bisschen kreativ mit deiner Lebenswelt auseinanderzusetzen, innezuhalten, zu beobachten und zu spüren. Am Ende des Monats hast du ein buntes kreatives Artjournal, jede Menge Spaß gehabt und vielleicht die ein oder andere neue Technik kennengelernt. Du bist drangeblieben an einer Sache und vielleicht überrascht über ganz neue Ausdrucksmöglichkeiten. Du musst dafür nicht zeichnen können."

Das klang doch echt vielversprechend! Vor allem der letzte Satz 😉 ...

 

die geschichte des gartenscherenkrokodils

Seither freue ich mich jeden Tag auf eine kleine Inspiration und genieße den Flow. Entspannung pur. Genau, was ich wollte. Es gibt eine facebook-Gruppe, auf der sich die TeilnehmerInnen austauschen können. Auch das mache ich gerne. Da ist viel Inspirierendes zu entdecken und der Tonfall ist persönlich und wertschätzend (was man auf facebook ja auch durchaus anders erleben kann). In den ersten Tagen war ich sogar ganz zufrieden mit meinen "Werken". Auch, wenn es darum eigentlich gar nicht geht. 

 

Dann kam folgende Aufgabe: Wähle nach Zufallsprinzip eine Farbe im Aquarellkasten, mit der du eine Doppelseite deines Skizzenbuchs einfärbst. Suche dir Gegenstände in derselben Farbe. Zeichne diese in der Draufsicht. 

Uff, ist mir das schwer gefallen. Die Aufgabe an sich fand ich richtig gut. Aber die Umsetzung  🙈 

Ich freute mich, dass mein Buch "Stroh zu Gold" in die Farbpalette passte. Das Abzeichnen klappte einigermaßen. Mit dem Kerzenständer war es schon schwieriger. Gott sei Dank wurde ausdrücklich erlaubt, Beschriftungen hinzuzufügen. Dann kam die Gartenschere. Ich hatte mir das so einfach vorgestellt. Um die Form hinzubekommen, malte ich mit Blick auf den Gegenstand - im Prinzip also blind - auf das Blatt. Und so sah es dann auch aus. Für mich nicht erkennbar. Die Proportionen völlig daneben. Außerdem zu groß, so dass gar nicht alles hin passte. 

 

 

Ehrlicherweise postete ich das Bild trotzdem in die facebook-Gruppe. Mit der Bemerkung, dass mir die Aufgabe ziemlich schwer gefallen sei, kaum eine Proportion stimme, vor allem die Gartenschere ...

Als ich später nochmal in die Gruppe schaute, traute ich meinen Augen kaum. Da hatten doch tatsächlich zwei mir persönlich völlig unbekannte Teilnehmerinnen lobende Worte für mich. Eine der beiden meinte, sie kenne das Gefühl, sich selbst kritisch zu bewerten. "Ist ´ ne individuelle Gartenschere", schrieb sie. Und: "Oder du 'arbeitest' sie an einem anderen Tag zu einem Krokodil um." 

 

Genial, oder? Ich entdeckte das Krokodil sofort. Ein wertschätzender und zugleich humorvoller Blick hatte in meiner Seite augenzwinkernd etwas entdeckt, was bereits da war, aber noch vervollständigt, quasi geboren werden wollte: das Gartenscherenkrokodil.

 

 

Und hier ist es. Ich liebe es! Das Gartenscherenkrokodil hätte es ohne meine stümperhafte Zeichnung und den besonderen Blick der anderen Teilnehmerin nie gegeben. Und das wäre doch wirklich schade gewesen. 

 

Eine witzige Geschichte, oder? Doch je länger ich darüber nachdenke, desto wertvoller und wegweisender wird sie für mich. Wie viele Gartenscherenkrokodile (im übertragenen Sinne) könnte ich entdecken, wenn ich genauer, liebevoller, anders hinsähe? Wenn ich Möglichkeiten wahrnähme statt Grenzen. Chancen statt Fehler. 

 

Was würde ein Blick der Gnade für unseren Umgang miteinander bedeuten? Bereitschaft zu Versöhnung statt verhärteter Fronten, Inklusion statt Ausgrenzung, auch mal über sich selbst lachen. Klingt das nicht schön? Während ich hier sitze und schreibe, kann ich glauben, dass es wahr werden könnte. Wieder zurück im Alltag fällt mir das schon deutlich schwerer. Oft fehlt mir der Abstand, das Besondere, die Chance im vermeintlich Befremdlichen meines Gegenübers zu sehen. Wie gut, wenn das dann einem Dritten gelingt. Und wenn es dieser Dritte schafft, mir seine Beobachtung in wertschätzender Art mitzuteilen. So, dass ich sie annehmen, einen Schritt zurücktreten und mit anderen Augen sehen kann. 

 

Ein Blick der Gnade aus Liebe. Ist das nicht der Blick, mit dem Gott uns ansieht? Trotzdem, obwohl, dennoch ... Und immer wieder: weil ...

 

"Doch du, Herr, bist ein gnädiger und barmherziger gott." (Psalm 86,15)

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