Ich bin müde.
Im Dunkeln aufstehen und an manchen Tagen im Dunkeln von der Arbeit nach Hause kommen.
Acht von 43 Kilometern Arbeitsweg sind seit Monaten Baustelle. Es geht zäh voran.
Der Himmel ist meist wolkenverhangen, manchmal weint er.
Selbst bei Sonnenschein leuchten immer weniger bunte Blätter an den Bäumen, immer mehr von ihnen liegen auf dem Boden. Die Bäume werden zu Baumgerippen. Kahl und leer.
Die Exkursion mit der 10. Klasse fällt ins Wasser. Nicht wegen schlechten Wetters. Nicht wegen Corona. Seit Wochen verhandeln wir, unter welchen Bedingungen wir fahren können. Endlich steht ein gutes, vernünftiges Konzept. Und dann streiken die öffentlichen Verkehrsmittel. Wir kommen nicht hin.
Übers Wochenende müssen meine Kollegin und ich als Ersatz für die Exkursion einen Projekttag aus dem Boden stampfen, um die Lücke zu füllen. Es ist ausgerechnet das Wochenende, an dem sich Besuch angekündigt hat, wir sehr kurzfristig als Bandersatz im Gottesdienst einspringen und zwei Basketballspiele stattfinden. Eines davon etwa 80 km von zu Hause entfernt.
Die Corona-Ampel springt auf rot. Ich muss wieder mit Mund-Nase-Schutz unterrichten wie zu Schuljahresbeginn. Ich bin müde.
Dabei gehöre ich nicht zu den Menschen, die sich wegen der Masken aufregen, Verschwörungen hinter allen Maßnahmen wittern und das lauthals in den sozialen Medien verbreiten. Sehr laut. Auch das macht mich müde. Und wütend. Und hilflos. Es ist mir unbegreiflich, welchen Nutzen unsere Regierung, Bill Gates oder wer auch immer von COVID19 haben soll. Von mir aus kann aber jeder seine Meinung haben. Wenn der Tonfall nicht so aggressiv wäre. Mir fällt auf, dass viele (nicht alle) von denen, die so laut schreien, vor ein paar Jahren gegen die Flüchtlinge in unserem Land waren. Und dann gegen die Gretas dieser Welt. Gegen, gegen, gegen ...
Wie damals, möchte ich viele Statements in den sozialen Medien nicht unkommentiert stehen lassen. Ich habe das Bedürfnis, meine Stimme zu erheben. Unsinnige Argumente und fake news zu entkräften, etwas dagegen zu unternehmen. Dagegen, dagegen, dagegen ...
Und so verhärten sich Fronten, werden wir zu Gegnern. Manchmal bin ich hilflos, weil ich dieses Gegeneinander gar nicht möchte. War da nicht mal ein Miteinander, eine ganz untypische, aber wohltuende Solidarität während des Lockdowns im Frühjahr? Wo ist sie hin? Ich bin frustriert. Und müde.
den blickwinkel ändern
Draußen regnet es noch immer und hier drinnen ist es dunkel. Ich zünde eine Kerze an und sehe, wie ihr Licht erstrahlt, das Zimmer mit einem Mal verändert, Hoffnung sich ausbreitet. Und ich beschließe, etwas gegen die innere Müdigkeit zu unternehmen. Etwas abseits von Ausschlafen, Kaffee und Ablenkung. Einen Perspektivwechsel.
Wenn ich morgens aufstehe, ist es dunkel. Am Esstisch entzünden wir eine Kerze und machen es uns gemütlich.
Ich fahre 43 km zur Arbeit. Davon 8 Kilometer Baustelle. Ich muss den Fuß vom Gaspedal nehmen, Geschwindigkeit reduzieren. Der Weg zur Schule dauert ein paar Minuten länger als sonst. Zeit, die ich zum Beten und Durchdenken des Tages nutze. Nach der Autobahn komme ich an der Wiese mit dem leuchtenden Herz vorbei, über das ich mich jeden Morgen freue. Es leuchtet nur, wenn es dunkel ist. Man sieht seine Umrisse sogar durch dichten Nebel.
Auf dem Rückweg wieder Zeit. Ich höre Podcasts und Mariana Lekys Buch "Was man von hier aus sehen kann". Ein leises Buch. Mit feinsinnigem Humor. Ich genieße es.
Die Bäume verlieren ihr Laub. Jede Menge Naturmaterial für meine Sammlerseele. Der Jahreszeitentisch wird bunter und schöner.
Unsere Schüler genießen den Projekttag. Stundenlang sammeln sie Blätter, Bucheckern, Haselnüsse und Stöckchen, gestalten und basteln damit: Landart, Blätterkronen, Zapfenmännchen, Farbpaletten der Natur. Meine Kollegin hat mir ganz viel Vorbereitung abgenommen. Wir arbeiten richtig gut zusammen, ergänzen und unterstützen uns.
Viele der wunderbaren Ideen für unseren Projekttag habe ich auf Instagram gefunden und kann sie jetzt umsetzen. Ich stöbere gerne bei den Waldorfeltern, den Kräuterfrauen, den Künstlern und lasse mich inspirieren. Es gibt so eine große Vielfalt in dieser Welt und das Internet verbindet uns über weite Entfernungen.
meine stimme
Die sozialen Medien. Sie sind nicht nur laut und ermüdend, sondern auch aufbauend und ermutigend. So sehr mich manche hier kundgetanen Meinungen irritieren und befremden, so sehr fühle ich mich bei anderen verstanden und bestärkt. Was mein oben genanntes Problem betrifft (Positionieren oder stillhalten? Auf Konfrontation gehen oder beschwichtigen? - das Thema betrifft ja nicht nur das Internet, sondern auch Begegnungen im real life) bin ich auf ein paar für mich hilfreiche Gedanken gestoßen:
1. Ich muss nicht immer zu allem meine Meinung äußern (das soll kein Maulkorb sein). Gerade, wenn mir Menschen am Herzen liegen, mit denen ich über ein bestimmtes Thema ständig aneinandergerate, kann es sinnvoll sein, dieses bewusst aus unserem Gespräch rauszuhalten und auch aktiv gegenzusteuern, wenn wir uns dem nähern.
2. Aggressiver Tonfall ist oft ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Angst. Ich bin nicht persönlich damit gemeint. Ich muss mich nicht als Opfer dieser Botschaften fühlen, mich von ihnen nicht lähmen oder provozieren lassen. Stattdessen kann ich sie in ihrer Heftigkeit wahrnehmen und für mich interpretieren, was dahintersteckt.
3. Es ist jeden Tag aufs Neue meine Entscheidung, ob ich Statements (in respektvollem Ton) kommentieren möchte oder nicht. Die Welt geht nicht unter und mein Ruf nimmt keinen Schaden, wenn ich es nicht mache.
Die Tage werden kürzer, dunkler und kälter. Dagegen kann ich nichts unternehmen. Aber meine eigene Einstellung, die habe ich in der Hand. Manchmal zumindest. 😉 Ich kann mich entscheiden, wie ich mit mir und anderen umgehe. Jeden Tag aufs Neue. Ich kann mir vergeben, wenn ich scheitere. Und das kannst du auch. Spürst du, wie es heller und wärmer wird und wie die Müdigkeit weicht?
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Mutti (Mittwoch, 28 Oktober 2020 12:54)
Ohne Worte, einfach nur D A N K E- du hast mir aus der Seele gesprochen.
Auch ich habe ganz viele Kerzen und noch mehr Kastanien.
Aus dem Leipziger Wäldchen.
Bettina (Mittwoch, 28 Oktober 2020 15:50)
Danke, Nici. Das spricht mir aus der Seele. Lass es dir gut gehen :)
Susanne (Mittwoch, 28 Oktober 2020 16:13)
Danke für diesen Beitrag!
Es ist gerade so, dass ich darin meine eigenen Gedanken, meine eigene Einstellung und Gefühle lese.
Ja, müde...und doch wach genug um den richtigen Weg zu finden, um durch diese (Jahres-)Zeit zu kommen! Machen wir uns auf den Weg!
Corinna (Mittwoch, 28 Oktober 2020 20:49)
1000 Dank für diesen Beitrag ... mir geht es genau so und ja wir haben es in der Hand was / wie wir die kommenden Wochen angehen ...
Liebe Grüße