Jesus christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist (Lukas 6,36)
Ich muss ehrlich gestehen, dass mich die diesjährige Jahreslosung erst einmal gar nicht vom Hocker gehauen hat. Ganz anders die letztjährige ("Ich glaube. Hilf meinem Unglauben."), die mir aus dem Herzen sprach. Die Geschichte mit der gegenseitigen Barmherzigkeit - ich empfand sie als abgedroschen und irgendwie nichtssagend. Eine christliche Phrase: Klar, wir sollen uns alle lieb haben. Fällt mal leichter mal schwerer je nach Person und Situation. Nichts Neues soweit.
Vielleicht habe ich auch deshalb noch nie so lange gebraucht, die Jahreslosung in meiner Art-Journaling-Bibel umzusetzen.
Und dann ist irgendwie etwas geschehen ...
Ich habe das Gefühl, die Worte und ihre Bedeutung nach und nach, wie ein in mehrere Lagen verpacktes Geschenk, auszupacken und zu entdecken. Ich wickle immer noch. Aber es schimmert mehr und mehr etwas durch, das mich neugierig macht. Vielleicht ist das Geschenk unerwartet wertvoll?
Die Barmherzigkeit des Vaters
So sehr ich zunächst mit dem Bibeltext rang, so klar stand mir vor Augen, welches Bild ich dazu in meinem Art Journaling integrieren wollte. Nicht etwa den barmherzigen Samariter, sondern den Verlorenen Sohn, gemalt von Rembrandt van Rijn. Obwohl ich sie mir nicht ins Wohnzimmer hängen würde, berühren mich das Spiel von Licht und Schatten, die Tiefe in Rembrandts Bildern immer wieder. "Die Rückkehr des verlorenen Sohnes" ist eines seiner bekanntesten Gemälde. Eines Tages werde ich es mir in der Eremitage in St. Petersburg ansehen. Das Bild misst beeindruckende 2,62 m x 2,06 m. In dem sehr empfehlenswerten Buch "Nimm sein Bild in dein Herz" schildert der große spirituelle Autor Henri Nouwen auf sehr persönliche Weise, wie er immer wieder andächtig vor dem Gemälde stand, sich berühren ließ und schließlich seine eigene Berufung neu entdeckte.
Das Buch öffnet den Blick für faszinierende Bilddetails. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die Hände des Vaters. Bei genauerer Betrachtung eine männliche und eine weibliche Hand. Denn unser Gott ist beides. Kraftvoll und zärtlich, zupackend und behütend, wegweisend und tröstend, männlich und weiblich. Bei der Textpassage "Wie auch euer Vater barmherzig ist" hatte ich sofort das Bild dieser Hände, dieser Umarmung im Kopf. In "Barmherzigkeit" steckt "Erbarmen", aber auch ganz viel "Herz". Diesem Vater wurde von seinem Sohn das Herz gebrochen, aber er liebte unbeirrt weiter und schloss den Abtrünnigen schließlich wieder in seine Arme. Voller Erbarmen.
seid barmherzig ...
Kommen wir zur anderen Hälfte des Textes. Der Unbequemeren. "Seid barmherzig, wie auch euer Vater ...", fordert nach dem Nehmen zum Geben auf. Ich habe mit diesen Forderungen immer mal wieder meine Probleme. Nicht selten rufen christliche "mit erhobenem Zeigefinger-Sprüche" Trotz in mir hervor. Damit beschäftigt, "Ja, aber ..." zu sagen, verpasse ich manchmal, in die Tiefe zu gehen und die Schätze, die hinter der Phrase liegen, zu heben. Ab und an macht sich so ein Schatz dann aber selbstständig und stupst mich immer wieder an. Auffordernd. Dann löse ich die erste Lage des Geschenkpapiers, die zweite ..., werde neugierig und beginne zu entdecken.
Dieses "Seid barmherzig" gilt doch auch irgendwie mir. Ganz ohne erhobenen Zeigefinger.
- Sei barmherzig, wenn der Tag nur 24 Stunden hat und du dein Pensum nicht schaffst, wie du es dir vorgenommen hast.
- Sei barmherzig, wenn du den Lockdown weder dafür nutzt, abzunehmen, noch besonders sportlich zu werden (Ihr lacht euch sicher kaputt, aber ich hatte sowas mal ernsthaft vor. Ich sah mich nach dem Lockdown als schlankeres, sportlicheres, besseres Ich wieder in der Öffentlichkeit auftauchen. Ratet mal, in welche Richtung sich mein Gewicht und mein Fitnesszustand stattdessen entwickelt haben)
- Sei barmherzig, wenn dich Job, Familie, Alleinsein, zu viel Aufeinanderhocken ... nicht gütiger werden lassen, sondern du deiner Anspannung mal Luft machen musst.
Du kannst die Liste selbst weiterführen. Es finden sich sicher noch etliche Punkte, an denen wir mit uns selbst barmherziger sein können.
Und vermutlich erst wenn das (halbwegs) geschafft ist, lässt sich die Sache mit den Anderen angehen. Man liebt ja auch so schlecht, wenn man sich selbst nicht geliebt weiß.
Barmherzigkeit hat mit unserem Herz zu tun. Meines wurde gestern von meinem Mann berührt. Gegen Mittag rief er zu Hause an und erwischte mich mitten in der Arbeit - zwischen Videokonferenzen mit zwei Klassen, Korrekturarbeit und dem Weg zur Schule, wo ich bis abends die geht-nicht-von-zu-Hause-aus-Sachen abarbeiten wollte. Ich gewährte ihm eine Fünf-Minuten-Audienz. Ehe ich mich versah, waren zehn Minuten rum und geredet hatte nur ich. Mit schlechtem Gewissen entschuldigte ich mich. Da gab ich ihm schon nur fünf Minuten und ließ ihn dann nicht mal zu Wort kommen. Er sagte einfach nur, es wäre schon in Ordnung. Er hätte ja nur angerufen, um meine Stimme zu hören.
Wenn das nicht barmherzig ist ... Erbarmen und ganz viel Herz ❤
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Annette (Samstag, 06 Februar 2021 19:37)
liebe nicole, danke für den post....sofort habe ich das bild gesehen und an henri nouven gedacht...ich konnte mit der jahreslosung auch erst mal gar nix anfangen.....erst als ich es auf mich bezogen habe, hat sich der blick darauf geweitet....
herzlichst
annette