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Für einen Moment blieb die Zeit stehen

 

Zwei Tage zuvor hatten wir Linas Geburtstag gefeiert. Sie bekam neue Ski und durfte sie mit zwei Freundinnen und Sophia auf dem nächsten höheren Berg der Umgebung ausprobieren. Der Skiliftbetrieb war wegen Corona eingestellt, also fuhr mein Mann die Mädels immer wieder auf den Berg. Wir feierten das Wochenende. Für Thilo ein verlängertes, denn er hatte sich den Montag freigenommen, um seit einer gefühlten Ewigkeit mal wieder zum Langlaufen zu fahren. Am Dienstag sollte es tauen. Wenn bei uns schon mal so viel Schnee liegt, muss man das ausnutzen. 

 

Blass und erschöpft kam Thilo vom Langlaufen zurück. Mit einem eigenartigen Schmerz im Brustkorb und Angst. Wir dachten an das Anstrengungsasthma, das ihm manchmal etwas zu schaffen macht, vor allem bei Kälte. Aber das Asthmaspray brachte nicht viel. 

Er wollte zum Arzt. Das will er nie. Wir fuhren zu seinem Hausarzt und warteten noch ein paar Minuten, bis dessen Mittagspause rum war. Dumm, denke ich jetzt, dumm.

Nach der Auswertung des EKG kam der Internist und legte Thilo beruhigend die Hand auf die Schulter. "Erschrecken Sie bitte nicht. Aber das war ein Herzinfarkt", sagte er.

 

Für einen Moment blieb die Zeit stehen. 

 

 

Dann setzte die ganze geschäftige ärztliche Routine ein. Mein Mann wurde hingelegt, verkabelt, mit Blutverdünner versorgt, der Rettungswagen gerufen. Ich stand hinter dem Arzt, der seiner Helferin den typischen Verlauf einer EKG-Kurve nach dem Herzinfarkt erklärte. Ich stand im Weg herum, als die Rettungssanitäter mit der Notärztin eintrafen. Ich stand neben mir. Irgendwie war wirklich die Zeit stehen geblieben. Die ganzen Leute im Raum strahlten Ruhe aus. Unglaubliche Ruhe. Ich setzte einen WhatsApp-Gebetshilferuf ab und stand dann weiter irgendwo rum. 

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sich der Rettungswagen Richtung Krankenhaus in Bewegung und dort wurde das Herumsitzen noch sinnloser. Ich wollte nichts anderes als zu meinem Mann, der auf seine Herzkathederuntersuchung vorbereitet wurde, und durfte nicht. Corona erlaubt keine Besuche. KEINE. Mein Verstand kann das nachvollziehen, mein Herz nicht. Ich wurde nach Hause geschickt.

 

Dort warteten die Kinder und meine Eltern. Ich hatte meine Eltern noch vom Arzt aus angerufen und gebeten, zu kommen und sich um die Kinder zu kümmern. Und hier beginnt der gute Teil der Geschichte - der von Familie und Freunden. Von einem Netz, das auffängt und trägt. Eigentlich beginnt er tatsächlich schon früher. Bei Ärzten und Pflegepersonal, die besonnen handelten und beruhigend auf  unsere flatternden Nerven einwirkten. Bei einem guten Gesundheitssystem und medizinischen Personal. Bei einem Netz, das auffängt und trägt. 

 

Als wir uns fragten, ob das Krankenhaus unserer Stadt die richtige Wahl für einen Herzinfarktpatienten wäre, bestätigten drei unabhängige Personengruppen (das Team im Rettungswagen und zwei gute Freundinnen - eine Krankenschwester und eine Pharmareferentin), dass die Ärzte, die den Stent setzten, die Koryphäen im Umkreis sind. 

Während ich mich zu Hause in die Arme unserer Kinder und meiner Eltern fallen ließ, wurde Thilo in der Klinik ein Stent von diesen beiden erfahrenen Ärzten eingesetzt, die den gelungenen Eingriff mit einem kleinen Freudentänzchen feierten und meinen Mann durch vorsichtig positive Prognosen stärkten.

 

Meine Eltern waren meine Eltern, wie früher, wenn ich als Kind aufgefangen und gehalten werden musste. Einfach da. Beruhigend. Schnitzel klopfend. Möbel reparierend (zu allem Überfluss war an diesem Morgen unser Bett nach 22 Jahren und zwei Umzügen zusammengekracht). Klare, ruhige Worte sprechend. Zuhörend. Auch in den nächsten Tagen wurden wir getragen. Unsere Nachbarin brachte Nussecken, eine Freundin einen Topf warmes Abendessen. Eine andere den zur Abholung bestellten Türkranz. Die Mädels und ich schliefen in der ersten Nacht zu dritt in unserem wieder stabilisierten Ehebett. Danach haben wir eingesehen, dass das doch ganz schön eng ist. Seitdem wechseln sie sich ab. Meine Heilpraktiker- und Physiotherapiefreundin opferte ihre Mittagspause und behandelte meinen seit Wochen schmerzenden Rücken mit Massage und Akupunktur. Die Arzthelferin in der Hausarztpraxis meines Mannes erkannte sofort meinen Namen und erkundigte sich einfühlsam nach ihm. Meine Krankenschwesterfreundin übersetzte den Arztbrief für mich. Als Thilos 1. FCN gegen den KSC spielte, drückte unser Schwager aus Karlsruhe die Daumen für den gegnerischen "Club", woraufhin dieser prompt völlig unerwartet das Spiel gewann. Anrufe, Gebete, Essen, Massagen ... . Ich habe bestimmt etwas vergessen. Wir wurden und werden in einfach jeder Hinsicht versorgt und unterstützt. Ein Netz, das trägt. 

 

 

Am Wochenende durfte Thilo nach Hause. Und - obwohl die Sozialberaterin des Krankenhauses coronabedingt von einer längeren Wartezeit ausgegangen war - konnten wir ihn schon am Montag in die Rehaklinik fahren. Die Wunschklinik des Krankenhauses. 

Dort wird er in den nächsten drei Wochen lernen, seinem Körper wieder zu vertrauen, Grenzen und Möglichkeiten einzuschätzen, Untersuchungen und Beratung bekommen. Bisher sieht alles gut aus. Wie man mit 45 Jahren als Nichtraucher einen Herzinfarkt bekommen kann, war den Ärzten ein Rätsel. Scheinbar ist genau das aber jetzt Thilos Trumpfkarte. Beim heutigen Lauf- und Radtest wurde ihm eine richtig gute körperliche Verfassung bestätigt. Um es mit dem Humor meines Mannes zu sagen: Der Tour de France steht nach Beseitigung der Rohrverstopfung nichts mehr im Weg. 

 

Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Und jetzt ist sie wieder angelaufen. Der Alltag geht seinen Gang. Aber Worte wie "Bildungskatastrophe" lassen mich ziemlich kalt und "Schule" ist nicht mehr mein erster und letzter Gedanke am Tag. Vieles hat sich relativiert. Ich staune wieder über das Wunder unseres verletzlichen Lebens. Ich staune über Glauben, der tatsächlich trägt. Unsere Kinder staunen darüber, wie stark die Bindung eines Paares im mittleren Alter sein kann. Ehrfürchtiges, dankbares Staunen - ich habe nicht vor, das so schnell wieder zu verlernen. 

 

"Wenn du durch tiefes Wasser oder reißende Ströme gehen musst - ich bin bei dir, du wirst nicht ertrinken." (Jes. 43,2)

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Kommentare: 8
  • #1

    Angie (Mittwoch, 24 Februar 2021 13:46)

    Oh man wie krass!!! Ich wünsche euch viel Kraft weiterhin... alles gute und Gottes Segen!!!

  • #2

    Edeltraud C. (Mittwoch, 24 Februar 2021 15:42)

    Ich bete für Euch! ...auch wenn wir uns nicht persönlich kennen...

  • #3

    Dorothee (Mittwoch, 24 Februar 2021 15:58)

    Das ist echt stark und ein Geschenk, wenn man unter Coronabedingungen erfahren darf, dass ein Beziehungs- und Freundesnetzwerk trägt. Gott ist so gut. Seid behütet, die ganze Familie.

  • #4

    Judith Stotz (Mittwoch, 24 Februar 2021 17:23)

    Liebe Nici, vielen Dank für dein Teilen eurer Geschichte! Es ist so schön, zu lesen, wie ihr rundherum versorgt werdet! Alles Gute und Gottes weiteren spürbaren Beistand für eure Familie und baldige Genesung für Thilo! Ich schließe euch ins Gebet ein!

  • #5

    Annette (Mittwoch, 24 Februar 2021)

    ..ich danke dir fürs teilen...wie toll, dass euer glaube, dass euch gott trägt...ein gebet nach oben schickend
    herzlichst
    annette

  • #6

    Johanna (Mittwoch, 24 Februar 2021 19:40)

    So ein Schreck und so eine Ermutigung gleich danach...Danke fürs teilen. Gottes Segen für euch, wie schön ist es doch, zu merken, dass ER sa ist!

  • #7

    Silke Haubner (Mittwoch, 24 Februar 2021 20:20)

    Liebe Nici,
    Wir denken an euch und drücken die Daumen, dass Thilo bald wieder ganz fit ist. Lass uns wissen, wenn wir etwas für euch tun können. Wir haben auch ein Schlafsofa, falls Lina oder Sophia mal einen Tapetenwechsel brauchen

  • #8

    kaffiknopf (Dienstag, 16 März 2021 17:42)

    Uff! Ich denke an euch. <3 Alles Liebe, mirjam