sticken lernen mit hindernissen
Kennst du noch den kleinen Ritter Trenk und seine Freundin, das gar nicht mädchenhafte Burgfräulein Thekla? Die ihren Vater zur Verzweiflung brachte, weil sie lieber durch Wälder stromerte und mit der Erbsenschleuder schoss, statt Suppe zu kochen und zu sticken? Meine Familie erinnerte mich grinsend daran, als ich plötzlich und unerwartet das erste Stick-Kit meines Lebens bestellte. Ich, die Handarbeitsunterrichtstraumatisierte, die selbst zum Rechts-links-Stricken jemanden braucht, der im Notfall zurückstricken kann. Wie war es nur soweit gekommen?
Momentan kann man ja alles auf Corona schieben. Und vermutlich spielte diese verrückte Zeit tatsächlich eine Rolle. Irgendwann hatte ich genug Suppe gekocht und das tägliche durch den Wald Stromern genügte wohl auch nicht mehr. Ich musste den vielen kultusministeriellen Schreiben und der ganzen Rumrechnerei, wann nun welche Schüler*innen in den Präsenzunterricht dürfen und wann wieder nicht, etwas entgegensetzen. Etwas Kreatives. Etwas noch nie Dagewesenes. Und plötzlich ploppten hier und dort Bilder von wunderschönen Stickereien bei Instagram und Etsy auf. Es gab doch tatsächlich Anfängersets, angeblich für jedermann und jedefrau geeignet. Ein Komplettpaket mit Rahmen, vorgedrucktem Stoff, passendem Garn, Sticknadel und sogar eine Einfädelhilfe war dabei. Ich durchstöberte das Netz und entdeckte mein Motiv.
Vielleicht hast du gute Augen und dann liest du - ganz richtig - eine französische Stickanleitung. Beeindruckt? Je ne parle pas français. Was hatte mich denn da schon wieder geritten? Das Stickbild meiner Wahl ausgerechnet in Frankreich zu bestellen. Drei Wochen hatte ich hin und her überlegt, dann einige Zeit auf mein französisches Päckchen gewartet und jetzt musste die ganze Schritt-für-Schritt-absolut-anfängergeeignete Anleitung erst einmal übersetzt werden. Ich rechnete mit familiärer Unterstützung, aber die winkten nur ab. Zu lange her, Fach abgewählt, zu viele Spezialbegriffe. Gott sei Dank gibt es Google Translate, youtube-Stickfilmchen und eine sehr hilfsbereite französische Verkäuferin, die Gott sei Dank auch Englisch spricht. Jetzt saß ich also vor all dem Material und der endlich übersetzten Anleitung, voller Ehrfurcht, ob ich nun wirklich loslegen sollte. In dem Wörtchen Ehrfurcht steckt ja auch Furcht. Und ich musste mich tatsächlich erst einmal überwinden.
Meine erste Tat bestand darin, die Einfädelhilfe zu zerstören. Dabei hätte ich sie wirklich gut gebrauchen können. Ich muss leider zugeben, dass ich altersweitsichtig werde. Dabei bin ich doch nicht alt! Naja, wie dem auch sei. Fieserweise heben sich Kurz- und Weitsichtigkeit nicht auf, sondern ergänzen sich prächtig, so dass ich manchmal ehrlich das Gefühl habe, richtiggehend sehbehindert zu sein. Durch das Sticken machte ich eine erstaunliche Entdeckung. Mit Kontaktlinsen und Lesebrille sehe ich in der Nähe schlechter als ohne jede Sehhilfe. Also Sticken am besten morgens oder abends, ohne Linsen und ohne Brille. Die Einfädelhilfe wäre trotzdem klasse gewesen.
In meinem letzten Blogbeitrag kündigte ich an, noch ein paar meiner Kraftquellen zu verraten. Entspannung und irgendwie auch etwas Meditatives hatte ich mir von der Stickaktion versprochen. Vor meinem inneren Auge das Bild einer in sich ruhenden Frau, den Kopf über das Stickbild geneigt, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, erfüllt in die Handarbeit versunken. Lachst du gerade? Dann liegst du richtig. "Da hast du dir ja ein schönes Hobby rausgesucht", meinte auch mein Mann, als ich - ungelogen - 20 Minuten mit dem Versuch zubrachte, einen Faden durch das Nadelöhr zu bekommen. Anfangs geduldig, später, sagen wir mal, nicht mehr so gelassen. Ein bisschen musste ich dabei an das Zitat von Jesus denken: "Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr ..." Naja, irgendwann war auch dieser Faden drin. Inzwischen hängt mein Werk schon eine Weile im Flur und fällt ins Auge, wenn man zur Tür hereinkommt.
Es war Entspannung mit Hindernissen. Die französische Anleitung, die zerstörte Einfädelhilfe. Irgendwann stellte ich auch fest, dass ich die Hand mit dem dunkelgrünen, statt mit dem grauen Garn gestickt hatte (die Augen?). Gott sei Dank war genug dunkelgrün da. Wenn du graues Stickgarn brauchst, komm gerne vorbei. Ich hätte da noch welches.
Aber, was soll ich sagen? Nicht nur, dass mich am Ende beinahe kindlicher Stolz erfüllte - und der tat mir echt gut - ich würde die ganze Aktion tatsächlich als Kraftquelle bezeichnen. Zu behaupten, die Stickerei hätte etwas Meditatives für mich gehabt, wäre falsch. Dafür war ich viel zu anfängerverkrampft. Aber ich habe beim Kampf mit Nadel und Faden, beim Augenzusammenkneifen und beim Lauschen auf das Geräusch, das entsteht, wenn die Nadel durch den Stoff sticht, tatsächlich irgendwie diese verrückte Welt um mich herum und den ganzen Alltagswahnsinn vergessen.
tipp numero 4 neben waldstromern, suppe kochen und erbsen schleudern also: Stick doch mal (wieder) oder such dir eine andere echte herausforderung! und erzähl´ mir gerne davon. Ich bin gespannt.
Und noch ein Tipp, falls du kleine Kinder hast oder einfach selbst gerne richtig gute Kinderbücher liest (oder hörst): Der kleine Ritter Trenk von Kirsten Boie (Band 1) ist wirklich herrlich. Wir haben auch das Hörbuch geliebt. Und tun es noch.
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